2020 kam ich auf die Idee, mein Leben nochmal in eine andere Richtung zu lenken. Ich bewarb mich für eine Laufbahn im Öffentlichen Dienst – und zeitgleich, sozusagen als Plan B, um einen Schulplatz am Abendgymnasium Prenzlauer Berg. Man weiß ja nie. Für den Öffentlichen Dienst bekam ich eine Absage – und noch am selben Tag eine Zusage vom Abendgymnasium. Der Tag war erst mal gerettet! Ich hatte allerdings nicht mit den Reaktionen aus meinem Bekanntenkreis gerechnet. Was ich da zu hören bekam! Hier ist mal eine kleine Kostprobe:
„Das schafft man eh nicht!“
„Ich habe eine Bekannte, die es auch nicht geschafft hat. Warum glaubst du, dass du es packst?“
„Was willst du überhaupt mit dem Abitur?“
Ich spürte, wie ich selbst anfing zu zweifeln, mir Fragen zu stellen und hin und her zu überlegen. Mutete ich mir nicht zu viel zu mit meinem erweiterten Hauptschulabschluss? Gut. Ich habe eine abgeschlossene Berufsausbildung. Aber die Schulzeit lag doch schon etliche Jahre zurück. Andererseits fragte ich mich, seit ich aus der Schule entlassen bin, ob ich nicht damals hätte weitermachen sollen, ob ich das Abitur nicht schon längst hätte haben können. Egal, ich musste den Beweis einfach liefern und schauen, wie weit ich komme.
Der Anfang am Abendgymnasium war alles andere als leicht. Es war die Corona-Zeit und das, was man Lernen unter besonderen Bedingungen nennt. Ich startete mit dem Vorkurs, zog also das volle Programm durch. Im ersten Jahr habe ich mich langsam wieder an das Lernen gewöhnt. Im zweiten Jahr hatte ich die Kursphase schon im Blick und hatte genaue Vorstellungen von den Leistungskursen, die ich belegen wollte. Manchmal war ich aber von der Arbeit so geschafft, dass ich eigentlich nicht mehr aufnahmefähig war. Trotzdem war das reine Zuhören viel lehrreicher, als abends vor dem Fernseher zu sitzen. Nach dem dritten Jahr habe ich mir schon mal stolz auf die Schulter geklopft und mir gesagt: „So, das Fachabi hast du jetzt!“
In der allerletzten Phase meiner Zeit am Abendgymnasium, wenige Monate vor den Abiturprüfungen, wurde bei mir Krebs festgestellt. Ich musste schnell handeln und mich einer Chemotherapie unterziehen. Ich bin glücklich, dass ich trotz der niederschmetternden Diagnose und der schweren Nebenwirkungen nicht aufgegeben habe. Ich wurde zu jeder Zeit ermutigt, weiterzumachen und mir wurde mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Frau Meißner, Herrn Pilz, Herrn Groß, Frau Thiele, Herrn Dr. Kiesow sowie unserer Schulleiterin, Frau Müller. Meine Semesterklausuren und Prüfungen hatte ich vor Ort in der Schule. Ansonsten arbeitete ich neben den Therapien viel zu Hause und nutzte die Möglichkeit des Online-Unterrichts.
Im Juli 2024 war es dann soweit: Ich konnte mein Abiturzeugnis mit der Durchschnittsnote 2,0 in Empfang nehmen. Abschließend kann ich sagen: Es war eine schöne Zeit. Wir haben gearbeitet. Wir haben geschwitzt. Wir haben gelacht. Wir hatten tolle Erlebnisse: Besuch im englischen Theater, Besuch von Musikveranstaltungen, Lesungen, gemeinsame Feste… Ich weiß aber auch, dass ich es ohne die Unterstützung meiner Familie nicht gepackt hätte, Schulleben, Familie und Arbeit zu integrieren. Wie viele meiner Mithörer sind auf der Strecke geblieben und haben abgebrochen, die ersten bereits in den ersten Wochen nach dem Beginn. Ich habe durchgehalten.
Es war mir ein Vergnügen, das kann ich abschließend sagen!
P.