Michael Sacher (Abitur 2004)
Zum Schulanfang bekam ich von meiner Mutter eine Schultüte. Soweit normal, eigentlich, aber ich war schon 28. Und so stand ich an meinem zweiten ersten Schultag neugierig, hochambitioniert und auch etwas aufgeregt zwischen den anderen Aspiranten für den Vorkurs im Foyer des alten großen und ehrwürdigen Backsteinschulgebäudes in der Pasteurstraße. Das Gebäude mutierte jeden Abend für dreieinhalb Stunden von einer normalen Prenzlberger Schule zum Abendgymnasium für Erwachsene. In den letzten mehr als neun Jahren bei der Müllabfuhr hatte ich meine geistige Unterforderung u. a. mit Klavierunterricht abgemildert, und in der inzwischen fünfjährigen Beziehung mit meiner Psychologie studierenden Freundin hatte ich auch schon den in Arbeiterkreisen verbreiteten proletenhaften Dünkel gegenüber allem Akademischen abgelegt. Und weil mein Interesse immer schon der Geschichte (noch mehr der historischen als literarischen) gegolten hatte, und meine Recherchen im Internet recht schnell ergeben hatten, dass ein Studium in solcher Richtung zwingend die Hochschulreife voraussetzte, war ich nun hier. Fast alle in meinem Dunstkreis fanden das gut, nur mein Vater verstand überhaupt nicht, wie ich dafür dauerhaft meine gutbezahlte Stelle im Öffentlichen Dienst halbieren konnte (er brauchte noch Jahre hierfür). Und natürlich witterten einige Kollegen Höhenflüge, man fragte regelmäßig wann ich den Laden übernehmen würde und später hatte ich irgendwann den Spitznamen „Studiosi“.
Und was für ein Glück: Bereits an jenem ersten Tag stellte sich heraus, dass meine Fremdsprachenvoraussetzungen ausreichten, um den Vorkurs überspringen und direkt in der Einführungsphase starten zu können. Ein Jahr gespart! Überhaupt hatte ich Glück mit den Fächern und wir alle mit den Lehrern! Der Unterricht muss sich in der Abendschule naturgemäß auf die wichtigsten Fächer beschränken, das war zunächst Deutsch, das war schon immer mein Metier, bei der flotten Frau Bischoff, später bei der seriösen Frau Dr. Gross. Für Heiterkeit sorgte, als meine Banknachbarin und ich wegen Tuschelns von Frau Bischoff ermahnt wurden, und ich uns, da wir uns ja über den Unterrichtsstoff unterhalten hatten, mit „Aber wir haben einander doch nur geistig befruchtet…!“ verteidigte. Manches funktioniert halt doch nur in der Erwachsenenbildung!
Mathematik lag mir immer schon, außerdem pimpte mich die Mutter eines Freundes, Mathelehrerin und Oberstufenzentrumsdirektorin, in den ersten Wochen noch etwas zum Thema Funktionsrechnung, meine Schulzeit lag ja dann doch bereits zwölf Jahre zurück. Nie werde ich Frau Schulz vergessen, die es schaffte, noch den unbegnadetsten Schüler im Unterricht abzuholen und mitzunehmen, die eine wunderbare Schulfahrt nach Schweden mit uns organisierte und deren selbstgestrickte Topflappen ich noch viele Jahre in Benutzung hatte.
Physik (genau mein Ding), ich weiß nur nicht mehr genau bei wem. Durch einige Umzüge kann ich gerade die Abizeitung nicht finden, weggeworfen habe ich sie bestimmt nicht! Politische Weltkunde (also Geschichte… dämmert‘s?) beim guten Herrn Würker, auch er ein sehr freundlicher und engagierter Lehrer. Englischunterricht (erst bei Frau Bischoff und dann bei Frau Meißner) hatte ich ja für drei Jahre noch zu DDR-Zeiten gehabt, war aber rückblickend dafür, dass die Mauer bereits zwölf Jahre nicht mehr stand, beschämend schlecht darin. An dieser Stelle nochmal einen schönen Dank an meine beiden Lehrerinnen, die mich irgendwie durch die mündliche Prüfung charmiert haben.
Russisch! Zum Glück nur für ein Jahr, um die Fremdsprachenvoraussetzungen für das Abitur zu erfüllen. Es war eine elende Quälerei, und unsere geduldige Lehrerin war Frau Loos, eine geradezu bilderbuchhafte „russische“ Erscheinung, gern mit knallrot akzentuierten Lippen, Fingernägeln, Schuhen oder sonstigen roten Accessoires, sie selbst allerdings von deutscher Provenienz. Sie brachte uns mit Geduld, rollendem Rrr und viel Liebe zum Land und zur Sprache irgendwie zum vorgeschriebenen Mindeststandard, um im darauffolgenden Schuljahr endlich in die Kursphase eintreten zu dürfen. Am schönsten war es, wenn sie ins Erzählen von Anekdoten aus ihren gefühlt vieljährigen Aufenthalten in der Sowjetunion geriet und die sechs Fälle sowie voll- und unvollendete Aspekte kurz in den Hintergrund traten. Immerhin: Ich kann immer noch kyrillisch lesen und einige Sekunden lang Leute beeindrucken, indem ich „достопримечательности“ sage.
Die Höhepunkte des außerunterrichtlichen Zusammenseins waren sicher unsere Schulfahrten, neben der bereits erwähnten Schwedenfahrt fällt mir noch eine Reise nach Scheveningen ein, auf der ich hinfort von jeglichen weiteren Drogenexperimenten geheilt wurde, nachdem ich anlässlich des Besuchs eines Coffeeshops und dem Verzehr eines Hanf-Lollis in Kombination mit einer entsprechenden Zigarette komische allergische Reaktionen bekam. Die romantische Seite des abendgymnasialen Lebens kann auch nicht zu kurz gekommen sein, davon zeugen die Kinder meines Kollegen aus der Müllverbrennungsanlage Falko mit seiner Nina, beide waren in meinem Jahrgang und haben sich dort verliebt und später geheiratet.
Es ist kaum zu glauben, aber durch glückliche Fügung, gelegentlichem Fleiß und ausreichender Auffassungsgabe habe ich nach drei Jahren mein Abitur mit der Note 1,3 als Jahrgangs-Zweitbester ablegen können und konnte dadurch nahtlos an der Humboldt-Uni mit Europäischer Ethnologie und Neuerer und Neuester Geschichte einsteigen. Drei Jahre tägliches abendliches Schulbankdrücken, insbesondere mit einer je einstündigen Bahnfahrt davor und danach, selbst wenn man nur an zwei bis drei Tagen pro Woche wegen der Arbeit kurz nach vier aufsteht, mag nicht jedermenschs Sache sein. Für mich war das Abendgymnasium genau die richtige Entscheidung, die meinem Leben eine entscheidende neue Richtung gegeben hat. Und ich erinnere mich sehr gern an die Zeit zurück!